Springe zum Inhalt

Der Prittlacher Glockenturm

Von Hans Nimmerrichter (1902 – 1978)
veröffentlicht im Südmährischen Jahrbuch 1979 und 1981 von Ernst Ludwig in „Geschichte der Ortsgemeinde Prittlach“

Unser Turm, ein Wahrzeichen des Ortes, steht neben der Kirche, also nicht wie sonst üblich, mit dieser verbunden. Er ist und war auch nie Eigentum der Kirche. Mit seinen zwei mächtigen Turmzwiebeln ist er weit sichtbar. Sein Kupferdach ist mit dunkler Patina überzogen, liegt doch die Erneuerung schon Jahrhunderte zurück. Auch von der Straße aus kann man deutlich auf einem Zwiebel die Inschrift „REN 1665“ lesen.
Warum der Turm nicht der Kirche, sondern der Gemeinde gehört, ist anhand der überkommenen Urkunden nicht festzustellen.
Die Nutzung der einzelnen großen Räume war deshalb auch der Gemeinde vorbehalten. Sie musste auch für alle Reparaturen aufkommen. Zu ebener Erde waren die Kohlen für die Heizung der benachbarten Schule gelagert und allerlei Gerätschaften für die Bewirtschaftung der gemeindeeigenen Weingärten. In den darüber liegenden Räumen war früher die Gemeindestube, zuletzt die reichlich ausgestattete Gemeindebücherei.
In der Glockenstube hingen bis zum Jahre 1914 auf einem wuchtigen Glockenstuhl vier Glocken – die „große Glocke“, die "Zwölferglocke", die "Elferglocke" und das "Zinnglöckerl" (=Zügenglöckchen). Das Geläut erklang in einer hervorragenden Stimmung in D-Dur.
Das Läuten der Glocke war eigentlich Sache des Mesners, wurde aber meistens von Buben besorgt. Nur wenn die "Große Glocke" geläutet werden sollte, mussten kräftige Burschen dabei sein.
Über der mächtigen Glockenstube war der Raum für die Turmuhr, ein uraltes Werk mit einem Zifferblatt an jeder Turmseite, aber jeweils nur mit einem Zeiger. Sie schlug auch nur die vollen Stunden. Für die genaue Zeiteinstellung und das Aufziehen des Uhrwerks war seit erdenklicher Zeit der Groß-Toni, Zimmermann von Beruf, zuständig. Dank seiner Künste ging die Uhr immer sehr genau. Als Antrieb dienten zwei schwere Gewichte, die über Holzrollen an Seilen vom Uhrwerk durch die Glockenstube in die darunter liegende Kammer liefen.
Wann die ersten Glocken aufgezogen wurden und wann ihr erstes Geläut erklang, ist in den vorhandenen Unterlagen nicht mehr festzustellen. Jahraus, jahrein ertönten sie zur Ehre Gottes bei fröhlichen und traurigen Anlässen, bis sie 1914 der Metallsammlung für den großen Krieg zum Opfer fielen. Nur die "Große Glocke" entging diesem Schicksal, weil sie durch die engen Fenster der Glockenstube nicht entfernt werden konnte. Nun hing sie lange Jahre allein, und den Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Ruf zur Sonntagsandacht konnte nur der feststellen, der gut aufpasste.
In den Jahren nach 1921 konnten sich unsere Gemeindeväter – dank guter Finanzlage – für den Kauf einer zweiten Glocke entschließen. Denn im Gegensatz zu den allgemein üblichen freiwilligen Spenden der Bevölkerung wurde der Kauf mit den erwirtschafteten Erträgen des Weinbaues und aus dem Verkauf des Grases der gemeindeeigenen Wiesen ermöglicht.
Über eines waren sich damals wohl alle Gemeinderäte einig: Die Inschriften auf der neuen Glocke sollten für alle Einwohner lesbar und verständlich sein, also in Deutsch gefertigt werden. Die Inschriften der früheren Glocken waren nämlich lateinisch gewesen und für kaum einen verständlich. So erhielt die neue "Zwölferglocke" nun die Inschrift:

Zeuge sei in späteren Jahren, dass hier gute Menschen waren,
die in frommer Innigkeit Dich dem Dienst des Herrn geweiht.
Ich mahn Euch Tag um Tag, so oft als ich geschwungen,
die Väter waren deutsch, so bleibs auch in den Jungen.

Am unteren Rand der Glocke waren die Namen der gewählten Gemeindevertreter zur Zeit der Anschaffung angebracht: Johann Grimmel, Bürgermeister; Ernst Groß, Vizebürgermeister; die Gemeinderäte Alexander Antreich, Franz Beichl, Mathias Pichler, sowie die Ausschussmitglieder Johann Büchler, Franz Hlinetzky, Rupert Antreich, Johann Riedel, Josef Schneider, Mathias Zipfel, Johann Lang, Franz Groß, Eduard Haan, und Vinzenz Fibich. Diese Beschriftung sowie die Art der Anschaffung erregten den Zorn unseres damaligen Pfarrers Vesely. Wie manche andere deutsche Gemeinde Südmährens wurde auch Prittlach mangels eines deutschen Pfarrers durch einen tschechischen Priester betreut, und dieser verweigerte energisch die Weihe der neuen Glocke. Da blieben aber unsere Gemeindeväter standhaft. Man schickte ein Pferdefuhrwerk in die Glockengießerei nach Brünn. Dort wurde sie verladen, von einem Pater in Brünn ohne großes Aufsehen geweiht und heimgefahren. Die Kosten für die Weihe betrugen 20 Kronen. Ohne das sonst übliche Fest der Glockenweihe wurde sie auf den Turm gezogen. Die gesamte Bevölkerung war dabei, und alle waren stolz auf die neue Glocke.
Nun hatte die "Große Glocke" wieder eine Schwester, die ihr den Dienst erleichterte. Die Buben kamen wieder zum Läuten, zum Klettern im Glockenstuhl und lasen die Inschriften. Es konnte wieder, wie früher an Sonn- und Feiertagen, bei der Auferstehung, dem Umgang und bei anderen Gelegenheiten "zomgleit" werden.
Einmal habe ich gemeinsam mit meinem Bruder den Turm bestiegen. Wir wollten nur beim "Zwölfeleitn" dabei ein. Die Uhr schlug die zwölfte Stunde, aber es kam niemand zum Läuten. Kurz entschlossen fassten wir das Seil der "Zwölferglocke" und zogen dran, und siehe, die Glocke schlug an. Aber es klang nicht so voll wie sonst, sondern war nur ein ärmliches Gebimmel. Wir waren einfach noch zu klein und zu schwach dafür. Wir erschraken sehr, ließen den Glockenstrang los und verließen eilig den Turm über die Wendeltreppe. Ängstlich huschten wir am Pfarrhaus vorbei und äugten nur besorgt, ob der Pfarrer oder seine Köchin nicht nach den Übeltätern Ausschau hielten. Es war ein heißer Sommer und wir liefen barfuß, aber kein Stein schmerzte unsere Fußsohlen, vor lauter Angst, wir könnten erwischt werden.
Es kam der zweite Weltkrieg. Für den "Endsieg" mussten wieder alle Glocken geopfert werden, und diesmal war das enge Turmfenster kein Hindernis mehr. Der Neu-Maurer musste für Verbreiterung sorgen, und beide Glocken wurden in die Tiefe gestürzt. Achtzehn Klafter hoch war der Turm und so tief fielen die Glocken herab, ohne zu bersten. Nur wenige Ortsbewohner waren bei diesem Geschehen anwesend. Wohl keiner schämte sich dabei der Tränen. Die Glockenstube stand nun ganz leer.
Nach Jahren fand man unsere "neue Zwölferglocke" auf einem Lagerplatz bei Brünn. Sie war vielleicht durch einen Zufall dem Einschmelzen entgangen. Nun hängt sie wieder an ihrem Platz allein. Hätte sie eine Seele, ob sie noch derer gedenken würde, die einst auf ihr herumkletterten? Keiner kommt, sie zu läuten, und Knirpse werden den Aufgang wohl meiden; er ist schauerlich und verwachsen. Sollte sich doch einmal einer verirren, er könnte die Worte auf der Glocke nicht lesen. Für ihn wäre die Inschrift wieder "Lateinisch". Für uns aber ist es ein Trost, zu wissen, dass die deutschen Inschriften auf der letzten Glocke des Prittlacher Turmes in den Herzen all derer weiterleben, die in diesem schönen Orte einst ihre Heimat hatten.

 

2005